Das Märchen "Die Goldene Orgel"

Vor mehr denn hundert Jahren lebte in der damals landgräflichen Residenz Darmstadt ein Musikus mit Namen Christoph Graupner. Selbiger war ein ganzer Meister in seiner Kunst, nicht allein ein fruchtbarer und gründlicher, oder wie man Anno dazumal sagte, „reinlicher“ Komponist, sondern auch ein gewaltiger Spieler und Virtuos auf dem herrlichsten Instrument, der Orgel. Er hatte seine Lehrund Wanderjahre in der Stadt Hamburg als Sänger, Komponist und Kapellmeister bei den dortigen Opern zugebracht und dabei ein recht heiteres, lustiges Leben geführt. Der Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt, ein großer Freund der edlen Musica, lernte ihn in jener großen Handelsstadt kennen und zog ihn dann nach Darmstadt, wo er ihn zu seinem Hofund Leibkomponisten und Kapellmeister machte. Anfänglich gab‘s auch in Darmstadt Opern zu komponieren und zu dirigieren, doch verlor der Fürst bald die Lust an der gar kostspieligen Unterhaltung und gab sie wohlweislich und noch zur rechten Zeit auf. Nun hatte Graupner nur noch mit den Kammerund besonders den Kirchenmusiken zu tun, und je mehr er sich damit, besonders mit letzteren, befasste, je mehr veränderte sich sein ganzes Wesen, sein Charakter. Aus dem lustigen und leichten Musikanten wurde ein ernster und gesetzter, doch dabei froher und glücklicher Künstler, der seine Kunst, seine Familie über alles liebte, und sich nach und nach ein kleines Paradies auf der Erde schuf. Sein Glück wäre vollkommen gewesen, wenn nur ein Übelstand sich nicht immer von Neuem eingefunden und dasselbe getrübt. Dieser hieß „Nahrungssorge“. Graupners Besoldung als fürstlicher Kapellmeister war klein, seine Familie aber ziemlich groß und demgemäß die Ausgaben. Also entstand in seinem Hauswesen zeitweise eine falsche Harmonie, die noch weit störender und herzzerreißender wirkte als ohrenzerreißend eine solche in einer stümperhaften Komposition.

Graupner hatte aus Liebe ein braves, aber armes Bürgermädchen geheiratet und war nach und nach von seiner Eheliebsten mit just einem halben Dutzend Kinder beschenkt worden. In einem kleinen Hause in der engen Schlossgasse wohnte der landgräfliche Kapellmeister mit seiner großen Familie, zu der noch seine alte Mutter zählte. Sie schlugen sich nun durch die Sorgen des Lebens so gut es eben gehen wollte, und wollte es einmal nicht recht mehr gehen, so fügten sie sich, duldeten und darbten. Dann flüchtete der Musiker sich in sein kleines Dachund Kompositionskämmerchen, und schaute hoffend zu dem Konterfei des Königs David auf, das in schwarzem Rahmen über seinem Arbeitstisch hing. Was dann seine bedrängte, doch gläubige Seele erfüllte, warf er in Noten auf das Papier, die sich an einem der nächsten Sonntage in der Schlosskirche, und zur größten Erbauung des Hofes und der Gemeinde, in helle Töne und Gesänge verwandelten, die entweder inbrünstig zum Herrn der Welt um Erlösung aus schwererer Pein und Not flehten, oder gläubige Hoffnung auf seine Allmacht und Güte in frömmster, ergreifendster Weise ausdrückten. Oder der Meister eilte auch sofort zu seiner Orgel und erging sich in dem Zauberreich der Töne, so lange bis aller Kummer aus seinem Herzen verschwunden war, und die Ruhe, die Hoffnung aufs Neue eingezogen.

Also gewährte ihm seine schöne hohe Kunst, die edle Frau Musica, eine siegreiche Waffe gegen allen Kummer dieser armen Erde; sie sollte dem wackeren Meister noch mehr gewähren. Hört nur weiter!

Das zweite Quartal des Jahres ging zu Ende und Graupner hatte die fällige Besoldung zu erwarten. Doch ging zur Stunde der Herr Kabinettskassierer mit außergewöhnlich ernstem Gesichte an den Hofbediensteten vorbei und beantwortete ängstlich fragende Blicke mit einem vielsagenden, doch wenig versprechenden Achselzucken. Graupner war es nicht wohl zu mute. Daheim lag seine alte Mutter auf dem Siechbett, und sein ältestes Kind, ein hoffnungsvoller Knabe von etwa zehn Jahren war ebenfalls und nicht unbedenklich erkrankt. Die verordneten Medikamente, die Pflege der Kranken und Bedürfnisse des großen Haushalts erheischten Geld, und zum Übermaß war noch die halbjährige Miete der Wohnung fällig und musste bezahlt werden. Was sollte der arme Musikus machen, wenn die erwartete spärliche Besoldung, die das Notdürftigste kaum zu decken im Stande war, noch über die Zeit ausbliebe? Es waren traurige Aussichten, und recht trübe Gedanken füllten die Seele Graupners, als er am Sonntagnachmittag zur Schlosskirche schritt, um den musikalischen Teil des Gottesdienstes durch sein Spiel auf der Orgel auszuführen. Je näher er jedoch der Kirche und seinem Lieblingsinstrument kam, je ruhiger wurde es in seinem Innern und er ahnte, dass Hoffnung wie Zuversicht schon wieder bei ihm einkehren, dass Alles sich noch zum Guten wenden würde.

Zu seinem Orgelspiel wählte Graupner diesmal das kräftige Lied des alten prächtigen Gambisten Neumark „Wer nur den lieben Gott lässt walten.“ Aus einem überaus künstlichen und reich figurierten Präludium ließ er plötzlich die einfache, wohlbekannte Melodie in ernster, feierlicher Weise hervortreten, so dass sie ergreifend durch den kleinen Kirchenraum tönte. Er war so durchdrungen von der Wahrheit dessen, was die Worte des Liedes sagten, dass sich dieses zuversichtliche gläubige Fühlen und Denken in seinem Spiel mitteilte und letzterem eine wahre Weihe gab. Die Zuhörer groß und klein, hoch und niedrig, in den fürstlichen Kirchenstühlen und abgesonderten Räumen sowohl als auf den bürgerlichen Bänken, merkten staunend auf und folgten dem Gesange der Orgel mit solcher Andacht, als ob es der schönsten Predigt gelte.

Wie ein einfaches und gläubiges Gebet erklang das Lied in den Mittelstimmen der Orgel. Jetzt gesellten sich andere, hellere Töne und kleine, leichte melodische Gänge dazu: sie tauchten hie und da auf und vereinigten sich endlich zu selbstständigen Melodien, die das Hauptlied gleich wie Kränze von Gesängen umgaben, sich dann mit ihm wie zu einem gemeinsamen Gebet vereinigten. Es war schier, als ob eine Schaar Kinder verschiedenen Alters, verschiedenen Geschlechts, groß und klein, mit ihrem Vater vereint, gleiches Wünschen und Bitten, doch ein Jedes nach seiner Weise, seinem Fühlen und begreifen in Gebeten nach oben sendeten. Immer gewaltiger, eindringender ertönten die Melodien, immer lauter und beredter sprach das Spiel der Orgel die feste Zuversicht aus auf des Herrn Gnade, auf seine Hilfe zur rechten Zeit in schwerer Erdennot. Fest und siegesgewiss schritt dabei das majestätische Hauptmotiv einher, die übrigen Töne und Gesänge haltend, anfeuernd und mit sich emporhebend.

Alle Anwesenden waren aufs Tiefste ergriffen und im Herzen vereinten sie ihr brünstiges Bitten und Beten mit dem gewaltigen Tönen und Singen der Orgel. Jetzt endlich schien das Bitten Gewährung gefunden zu haben, denn die Melodien gingen nach kurzem, gleichsam freudigem Aufjauchzen in einen Hymnus über, der dem Dank froher Gläubiger ausdrückte, und zugleich die Güte und Gnade des Allerhöchsten aufs Herrlichste pries. Es war ein gewaltiges, melodisches Singen und Jubilieren, das die Zuhörer wahrhaft [hin]riss und Ort und Zeit vergessen machte. Doch nun kam die Krone des ganzen Spiels. Motive des ersten Liedes dienten als Thema und Gegenthema zu einer freien Fuge, deren Zwischenharmonien der Organist dem früher improvisierten Hymnus entnahm. Durch die kunstreichsten Gänge und Wendungen führte er die beiden Hauptgedanken durch alle Stimmen und immer größer und überwältigender baute sich das ganze kunstreiche Werk des begeisterten Musikers aus, bis er endlich alle Themata ineinander aufgehen ließ und mit einem höchsten Aufjauchzen der Freude und des Dankes sein Spielen endigte.

Lautlos und stumm saßen die Zuhörer da, ergriffen von dem Gehörten wie noch nie. Das Spiel des Organisten hatte lange Zeit in Anspruch genommen und die Dämmerung war bereits hereingebrochen und hüllte die Räume der Schlosskirche in ihre leichten heimlichen Schleier. Alle hatten der Zeit vergessen und nur dem Gesange der Orgel gelauscht, sich ihm mit ganzer Seele hingegeben. Doch mehr als alle übrigen Anwesenden schien Einer von dem gewaltigen und kunstreichen Spiel des Meisters ergriffen.

Dieser Eine war ein seltsamer Geselle. An dem Pfeiler zunächst der Tür, gerade der Orgel gegenüber, stand er. Es war eine schmächtige Gestalt in einem fadenscheinigen dunkeln Bratenrocke, der wie seine übrigen Kleidungstücke sich sehr vernachlässigt und herabgekommen darstellte. Sein hageres bleiches Gesicht war von einem gewaltigen Wust blondgrauer Haare umgeben, die tief auf Schulter und Nacken fielen und, obwohl in ziemlicher Unordnung, dennoch für eine natürliche Allonge passieren konnten. Ein Paar große dunkle Augen traten scharf aus dem blassen Antlitz hervor und gaben der ganzen eigentümlichen Gestalt etwas recht Absonderliches, ja Unheimliches. Während dem Spiele Graupners hatte er die Kirche betreten und war sofort wie gebannt am Pfeiler des Eingangs stehen geblieben. Mit größter Aufmerksamkeit und Spannung schien er dem Gesange der Orgel zu lauschen; sein ganzer Körper geriet nach und nach dabei in Tätigkeit und empfand wohl auch zugleich eine gewaltige Erschütterung, denn sein bleiches Antlitz rötete sich unmerklich und die Augen begannen zu glühen, indem sie schärfer und schärfer durch die hereinbrechende Dämmerung nach der Orgel schauten. Sein Mund öffnete sich und schloss sich, als ob er die herrlichen Töne mitkosten wollte, und auf seiner Stirne quollen unter den grauen Haaren große Schweißtropfen hervor, die dann und wann von den langen magern, sich zuckend bewegenden Fingern entfernt wurden. War dies geschehen, so sanken Arme und Hände wieder zurück auf die Schöße seines Habits, dort ihr eigentümliches Zucken und Bewegen fortsetzend. Es sah fast aus, als ob die langen Finger das Spiel des Meisters auf der Orgel imitieren, eine gleiche Musik auf der stummen, tuchenen Klaviatur des Bratenrockes ausführen wollten. Als aber Graupner endlich die gewaltige und künstliche Fuge ausführte, da hörte dies Klavierspiel auf und starr und bewegungslos blieben Arme und Hände, nur neigte sich die ganze Gestalt mehr nach vorne, wohl um die Töne der Orgel so früh als nur möglich zu erhaschen und in sich aufzunehmen, während die Augen immer mehr in der Dämmerung erglühten, und das ganze Gesicht sich zu einem freudigen Grinsen verzerrte. Endlich, da das Spiel der Orgel verstummte, die letzten Töne langsam verhallten, warf der sonderbare Geselle sich tief aufatmend auf eine ihm zunächst stehende leere Bank, mit Hand und Ärmel den Schweiß abwischend, der sein ganzes Gesicht bedeckte. Nicht kümmerte er sich bei solchem Thun um die nun die Kirche verlassenden, die den Fremden, der sich recht behaglich auf seinem Sitz streckte, als ob er in seiner Stube wäre, neugierig und staunend betrachteten.

Solchen Blicken begegnete der Geselle nur dann und wann mit keckem, freundlichem Grinsen. Er schien sich äußerst wohl auf seiner Bank zu fühlen, und machte durchaus keine Anstalt, die Kirche zu verlassen wie die übrigen Anwesenden. Endlich war er in der Tat der Letzte und der Hofkirchendiener, eine behäbige, runde Gestalt, schritt mit amtlich wichtiger Miene auf den sonderbaren Fremdling zu, um ihn aufzufordern, nunmehr seiner Wege zu gehen.

Doch auch solche Aufforderung beantwortete der Hagere mit gleicher grinsender Miene und ohne seine bequeme, halb liegende Stellung aufzugeben. Als das Erstaunen der würdigen Amtsperson jedoch in gerechte Entrüstung überzugehen drohte, wandte der Fremde den Kopf nach der Orgel hin und sprach mit recht keck klingendem Tone:

„Ich warte auf den Cantor, Organisten, oder welchen Titel sonst Derjenige tragen und führen mag, der so eben auf das Allervortrefflichste die Orgel dort traktiert.“

„Fürstlich Hessen-Darmstädtischer Hofkapellmeister und Director Musicis ist der Titel des sehr ehrenwerten Herrn Christoph Graupner, der soeben –“ sprach der Hofangestellte mit wachsender Entrüstung. Doch der Andere ließ ihn nicht ausreden, sondern freundlich grinsend wie vorher, fiel er ihm in die wohlgesetzte Rede:

„Nun so warte ich auf den Fürstlich Hessen-Darmstädtischen Hofkapellmeister und Director Musicis, den sehr ehrenwerten Herrn Christoph Graupner, der jedoch nebenbei ein gar rarer und gewaltiger Organist ist.“

„Bedaure, dass sothanes Warten all hier nicht vor sich gehen kann, sintemalen der Herr Hofkapellmeister schon vor einer Weile Kirche und Schloss durch den oberen Gang verlassen haben.“ Also erwiderte der Amtliche ziemlich von oben herab und mit sehr bezeichnender und einladender Gebärde auf die noch offene Kirchentür.

Doch solche Andeutung war vollständig überflüssig, denn der Hagere sprang von seiner Bank auf und eilte ohne Weiteres hinaus. Kopfschüttelnd folgte ihm der Hofkirchen-Diener, um seine letzte sonntägliche Amtshandlung zu verrichten, nämlich die Kirchentür von außen sorgfältig zu schließen. Doch während er bei solch‘ wichtigem Thun war, sah er dem Fremden schon wieder auf sich zueilen, und zwar in größter Hast. Schon hielt er den gewaltigen Kirchenschlüssel schützend vor sich hin, nicht anders vermeinend, als dass er einen mörderischen Angriff des fremden Gesellen zu gewärtigen habe, als dieser jedoch höflich den kleinen Dreimaster abzog und den Herrn Hofkirchen-Diener in geziemender Weise um die Adresse besagten Herrn Hofkapellmeisters Graupner ersuchte.

Als er diese vernommen, erfolgte von Seiten des Fremden eine zierliche Verneigung des Hauptes, begleitet von Blicken der großen Augen, die in ihrer Freundlichkeit nicht wenig Spott zeigten, worauf er sich dann rasch durch das Schlosstor entfernte, während der Hofkirchendiener ziemlich verblüfft und recht ärgerlich, sich in seiner Würde gekränkt fühlend, einem der Eingänge des Schlosses zuschritt, in dessen dunklem Schlunde er verschwand.

Audio: 17:30 min.

Die Goldene Orgel                  II. Der fahrende Musikant


  • Der Sänger

    Ernst Pasqué war zuerst Bariton-Sänger. Folgen Sie seinen Spuren in Europa auf den Bühnen seiner Zeit.   Link zum Musiker
  • Der Kommunikator

    Sein Kontakt-Netzwerk in seiner Zeit ist umfassend. Und das nur mit Briefen und persönlichen Kontakten!   Link zum Kommunikator
  • Der Schriftsteller

    Nach seiner Sängerkarriere schrieb er unermüdlich, über 18.000 Seiten und dies per Tinte und Hand.   Link zum Schriftsteller
  • Der Ehrenbürger

    Alsbach verdankt ihm den Beginn des Tourismus und den Ausbau der Dorfverschönerung.   Link zum Ehrenbürger