Das Märchen "Die Goldene Orgel"

Mit froher Zuversicht und selbst wahrhaft gehoben durch die Macht seines Spiels, langte Graupner in seiner Wohnung an. Er fand seinen kranken Knaben in ruhigem Schlummer, bewacht von der sorgenden Mutter. Die kummervollen Züge der Frau heiterten sich etwas auf, als sie in das frohe, leicht gerötete Antlitz des Gatten schaute, der sie mit Gruß und Kuss herzlich willkommen heißt. Seine Worte und Blicke sprachen Zufriedenheit und Hoffnung aus, und was sie sagten, fand willigen Eingang in ihr Herz. Die übrigen Kinder saßen um eine große Schüssel mit Weckmus, der sie vor dem Schlafengehen noch den Garaus zu machen eifrigst und in lauter Fröhlichkeit beschäftigt waren. Der Musiker verweilte nicht lange bei seiner Familie; er fühlte sich in der rechten Stimmung zu arbeiten, zu komponieren, wie er übrigens alltäglich abends tat und tun musste. Er sagte daher bald Frau und Kindern einen guten Abend und stieg hinauf in seine Dachkammer, in sein stilles Studierstübchen.

Es war ein kleines Gelass, dessen Hauptmöbel aus einem alten Clavicimbal, das hoch auf mit geschriebenen Partituren und Stimmen bepackt war, und einem langen und breiten hölzernen Tisch bestand, dessen einzige Zierrat das schon früher erwähnte Konterfei des Sängerkönigs David bildete. Auf diesem Tische lag ebenfalls eine Menge beschriebene, doch noch weit mehr unbeschriebene Notenblätter; ferner befanden sich da noch ein gewaltiges hölzernes Tintenfass und eine Sandbüchse von gleich dickbäuchigem Umfang. Die ursprünglich weiße Naturfarbe des Tisches war schier vollständig verschwunden unter einer wahren Sintflut von Tintenflecken und Spritzern, die hie und da mit Sandschichten bedeckt, förmliche Hügel bildeten und sich besonders dicht und hoch um das gewaltige Tintenfass lagerte. Alles deutete darauf hin, dass hier viel und tüchtig gearbeitet worden war und noch immer gearbeitet, komponiert und geschrieben wurde. Also war es auch. Graupner war nicht allein ein tüchtiger Musiker, sondern auch ein überaus fleißiger Mann. Ganze vollständige Jahrgänge von Kirchenmusiken, die zurzeit schon weit über das erste Dutzend hinausgingen, hatte er nicht allein komponiert, sondern auch eigenhändig und höchst zierlich in Stimmen gebracht, und in der Schlosskirche aufgeführt. Seine heutige Arbeit sollte dahin bestehen, eine größere Komposition für den bevorstehenden fünften Sonntag nach Trinitatis und über das Evangelium „vom reichen Fischzuge“ zu fertigen, oder vielmehr zu vollenden.

Doch war besagter großer Tisch noch mit anderen, auf leiblichen Genuss deutenden Gegenständen verziert und geschmückt. An einer Stelle war aller überflüssige Sand, der der gewaltigen Sandbüchse stets in wahren Strömen zu entquellen schien, sauber weggefegt, und da stand eine große zinnerne Kanne, ganz im Verhältnis zum Tintenfass und zur Sandbüchse, nebst einem schmucken geschliffenen Kelchglase, und daneben auf einem Teller von gleichem Metall wie die Kanne, der hell wie Silber blinkte, lag ein Leibchen Brod nebst mehreren großen Stücken Schinken, der gar saftig ausschaute, und dem nötigen Messer. Ein hoher Lehnstuhl mit geschnörkelten Füßen und Armen, dessen lederner Überzug durch Alter, Gebrauch und den nötigen Tintenflecken dunkel und gar schwarz dreinschaute, befand sich just vor dieser einladenden Stelle des Arbeitstisches und deutete sattsam an, dass der Inhaber des Stübchens hier nicht allein tüchtig komponierte und arbeitete, sondern auch des Leibes in entsprechender Weise pflegte.

Wenn auch der fürstliche Kapellmeister nicht allzufrieden mit dem gestrengen Herrn Kabinettskassierer sein mochte, so war er dafür desto zufriedener mit den übrigen „Meistern“ der fürstlichen Hofhaltung als mit den Herrn Küchen-, Keller-, sogar Confectmeistern, welche letzterem denn auch aus persönlicher Vorliebe für den tüchtigen Musicus und wackeren Mann, sein Arbeitsstübchen, aus dem so Schönes zu ihrer Erbauung hervorging, auf die oben angedeutete Art ausstaffierten.

Herr Graupner achtete aber diesmal kaum auf so kostbare und schmackhafte Liebesgebaren, und obschon es vollständig und gerechte Zeit zum Abendimbiss und Nachttrunk war, so ging er doch kalt und ungerührt an dem hübschen, einladenden Plätzchen vorüber, schob den hohen Lehnstuhl vor seine unbeschriebenen Notenblätter und schickte sich an, rasch auf das Papier zu werfen, was ihm wohl seit seinem Spielen im Kopfe herum gegangen sein mochte. Schon tunkte er die breitgeschnittene schwarze Feder in den dunkeln Schlund des Tintenfasses, als er plötzlich schwere ungewohnte Schritte die Treppe zu seiner Wohnung heraufpoltern hörte. Horchend hielt er die vollgesogene Feder über der schwarzen Flut. Wer konnte das sein? – Wer zu solcher Stunde und so laut, an dem Eingang seiner mit Kranken so reich gesegneten Familienwohnung pochen?

Die Tür unter ihm hatte sich geöffnet. Einige Zwiegespräche zwischen seiner Frau und einer ihm vollständig fremden Stimme waren gehalten worden, und wieder erdröhnten die Schritte, doch diesmal auf der Treppe, die zu seinem bescheidenen Museum führte. Jetzt pochte es laut an der Türe und auf des Meisters „Tretet ein!“ öffnete sich der Eingang und der uns schon bekannte fremde Geselle stand auf der Schwelle. Herr Graupner legte die um ihre schöne Bestimmung gekommene Feder bei Seite, wandte seinen Stuhl dem Eingange zu und musterte staunend die fremde, wahrhaft ungewöhnliche, doch durchaus nicht freundliche und Vertrauen erweckende Erscheinung. Jedoch der Fremde ließ dem Kapellmeister wenig Zeit zu weiterem Erstaunen, denn er schloss die Tür sorgfältig und trat auf den Sitzenden zu und seine beiden Hände ergreifend und kräftig schüttelnd, ihn dabei mit seinen großen Augen froh und lächelnd anschauend, sprach er:

„Ihr seid es also Meister, der so herrlich spielt! Endlich und noch in letzter Stunde habe ich gefunden, was ich seit Jahren suchte, und nun lasse ich nicht mehr ab von Euch!“

„Wer seid Ihr, und was wollt Ihr von mir?“ sagte Graupner, nicht wenig erstaunt über solch sonderbares Reden und Gebaren des Fremden.

„Das sollt Ihr Alles erfahren, so viel als Ihr nur wollt, und noch Anderes, was Euch sicherlich freuen wird. Denn wie ich aus Allem ersehe, seid Ihr nicht allzu reich mit irdischen Glücksgütern gesegnet, trotz Eurer herrlichen Kunstfertigkeit und Eurem hochklingenden Titel als fürstlicher Kapellmeister.“

„Weil es also ist,“ entgegnete der Musiker etwas verletzt, „so muss ich die Zeit gebrauchen. Und gerade jetzt habe ich eine Komposition zu vollenden, die am nächsten Sonntag executirt werden soll. Deshalb fasst Euch kurz; oder noch besser, verschiebt Euer Anliegen bis morgen.“

„Nichts da, lieber Meister!“ rief der Andere laut. „Ich lasse Euch nimmer! Und werft Eure Notenblätter nur flugs bei Seite, denn ich bringe Euch mehr goldene Dukaten, als Ihr heute noch Notenköpfe zu schreiben im Stande wäret, und wenn Ihr auch bis nach Mitternacht, bis zum Morgen arbeiten und komponieren würdet!“

Das war eine Rede, welche die Aufmerksamkeit des Kapellmeisters fesseln musste. Doch Zweifel erhoben sich sofort in ihm ob der Zurechnungsfähigkeit seines sonderbaren Besuches. Er konnte sich nicht enthalten, Derartiges zu äußern, meinend, dass der Sprecher wohl nicht recht bei Sinnen sei.

„Vollständig bei Verstand und bei Sinnen bin ich, wie Ihr bald sehen werdet“, warf der Fremde gar listig hin. Doch ernster, ja düster setzte er hinzu: „Aber verrückt, wahnsinnig würde ich werden, wenn Ihr mich nicht hören, mir nicht folgen wolltet!“

Dabei entfernte er mit rascher Bewegung einen Haufen Partituren von einem Schemel und rückte diesen dicht vor den Meister hin, welcher staunend den Worten des Fremden horchte, seinem dreisten Thun zusah. Doch legte Graupner dabei die Feder, die er schon wiederergriffen, auf’s Neue bei Seite und die beiden Hände auf die Lehnen des Sessels gestützt, sah er erwartungsvoll und fragend dem fremden Gesellen in das bleiche Antlitz.

Der Fremde sprach: „Also Ihr wollt mich hören. Ich muss dazu etwas weit ausholen und versichere Euch nur noch vorher, dass es mit den Dukaten seine vollständige Richtigkeit hat. Tut Ihr, was ich von Euch verlange, so mache ich Euch reicher als irgendeinen Eurer Kollegen im ganzen Heiligen Römischen Reich – Einen ausgenommen! Doch erlaubt vorher, dass ich mich zu meiner Erzählung etwas stärke und auch Ihr müsst einen kräftigen Trunk tun, und wenn dort in der Kanne Euer letzter Tropfen wäre; bald könnt Ihr ja Fässer vom Allerbesten im Keller haben!“ Dabei schenkte er flugs und ohne langes Besinnen das geschliffene Kelchglas voll, schob es dem Kapellmeister hin, und er selbst nahm die große, doch handliche Kanne und tat einen langen gewaltigen Zug.

„Jetzt hört, Meister! Hört mir ruhig zu und wenn’s auch wunderbar und unglaublich klingt, was ich Euch erzählen und sagen werde, so urteilt nicht eher, als bis ich mit meinem ganzen Bericht zu Ende bin. Künde ich Euch doch, wie Ihr ganz Wahrsehen werdet, die vollste und lauterste Wahrheit und so wahr Ihr der tüchtigste Meister auf der Orgel seid, den ich bis jetzt gehört!“

Bevor Graupner nur etwas entgegnen konnte, fuhr der Andere fort:

„Ich bin aus dem Elsass, der Stadt Straßburg, daheim und ein Musikus. Beim dortigen Stadtpfeifer hielt ich meine Lehrzeit aus und übte mich tüchtig aufblasenden und streichenden Instrumenten, auch ein Weniges auf der Orgel. Als ich endlich freigesprochen worden war, nahm ich den Stock in die Hand, hing den ledernen Quersack mit meiner Geige und anderem Notdürftigem um, und trat meiner Wanderschaft an. Weit aber sollte ich vor der Hand nicht kommen. In Weissenburg fand ich bei dem dortigen Stadt-Cantor Kondition und da selbiger kränklich war, durfte ich statt seiner der Jugend die neuen französischen Liedlein eingeigen, die anstatt des bisher üblichen „Pumpernickel“ in der Kirche gesungen werden sollten. Es war dies ein trübseliges Amt und wenn ich nicht die Orgel des alten Künstlers gehabt hätte, auf der ich mich in freier Zeit ergehen konnte, so würde ich es nicht lange ausgehalten haben. Noch etwas Anderes fesselte mich. Wir wohnten in einem alten Gebäude neben dem Künstler, welches ehemals zum Kloster gehört hatte. In diesem befanden sich große Säle, in denen eine Menge alter Bücher und Scripturen wirr durcheinander aufgestapelt lagen. Dort weilte ich gerne und blätterte in den alten Chroniken und Schriften. Da fand ich denn auch ein Buch, welches mich plötzlich Alles, Amt, Orgel und Geige vergessen machte. Es waren Aufzeichnungen eines ehemaligen Insassen der Abtei, allerlei seltsame Vorfallenheiten, unter denen eine mich besonders und derart anzog, dass ich sie Tag und Nacht nicht loswerden konnte. Der alte Mönch erzählte Folgendes:

In der Pfalz, im Sülzbacher Thale, nicht weit von den prächtigen Burgen Triefels und Scharheneck, stand ehemals die überaus reiche und große Abtei Eußerthal, deren Mönche die Hüter der Reichskleinodien waren, so auf dem festen Triefels aufbewahrt wurden. Der Abtei gehörten alle Ländereien, alle Höfe rings herum und sie war der seltensten und kostbarsten Schätze voll.

Unter anderen besaß sie auch eine Orgel, deren Pfeifen und Röhren von gediegenem lauterem Golde waren und die gar wundersame schöne Töne hervorbrachten. Diesen Stolz hatten die Mönche lange Zeit sorgsam zu hüten verstanden, und viele Fehden und Kriege waren an der Abtei vorübergegangen, ohne ihn zu vernichten, oder dem Kloster zu rauben. Einst aber, also ein gewaltiger Krieg das Kloster und seine Habe ernstlich bedrohte, wussten die Mönche kein anderes Mittel, ihren goldenen Schatz zu bergen und zu retten, als ihn in den nahen, kleinen, aber tiefen See zu versenken. In stiller Johannisnacht zogen sie in langem Trauerzuge aus der Klosterpforte, das goldene Werk auf einem Rädergestell mit sich führend, und bei dem ruhigen tiefen Wasser angekommen, senkten sie die goldene Orgel unter stillem Wehklagen und Beten in die Fluten. Am tiefsten ergriffen von diesem Verlust wurde der Pater, welcher bisher das Werk gehandhabt und gespielt. Es überkam ihn eine solche Verzweiflung, dass er Alles vergessend, zeitliches und ewiges Heil, sich seinem Lieblings-Instrumente nachstürzte und sich mit ihm in den grünen Fluten des Sees begrub.

Doch Ruhe fand der Unglückselige nicht, eben so wenig wie sein goldenes Pfeifenwerk. Alle sieben Jahre, in gleicher Nacht und zu gleicher Stunde, taucht die goldene Orgel aus dem Wasser auf, und der Mönch sitzt daran und spielt wundersame Melodien, die geisterhaft durch Tal und Wald tönen, bald leise klagend, bald lieblich klingend, also dass Mancher es gehört und schier geglaubt, es sei eine Musik der lieben Englein im Himmel droben. Zur selben Zeit nun darf Jeder, der es versteht und sich dazu unterfängt, sich an die Stelle des gespenstischen Mönches setzen und das goldene Werk spielen. Wird er ihm dann gerecht, spielt er also tüchtig und vortrefflich, dass der Mönch ihn als seinen Meister anerkennt, so darf er weiter und als Lohn einen Teil der Orgel zu Eigen verlangen. Doch wenn er unterliegt, den gespenstischen Meister in seinem Spielen nicht überbietet und übertrifft, so verschwinden Orgel und Mönch und der Letzterer wagt Leib und Leben. Also kündete die alte Handschrift.“

Hier machte der Erzähler eine Pause und wandte sich ohne Weiteres wieder zu dem Kruge, um einige kräftige Züge zu tun, sich nicht im Mindesten um das ungläubige Lächeln kümmernd, das auf dem Gesichte seines Zuhörers aufgestiegen.

Dieser Hatte dem wundersamen Bericht des fahrenden Musikanten von der goldenen Orgel mit rechtem Wohlgefallen gelauscht. Konnte die sagenhafte Begebenheit auch nicht verhehlen, auf eine solche echte Künstlerseele einen anregenden und großen Eindruck zu machen. Doch an die Wahrheit des Gehörten vermochte er nicht zu glauben. Schon wollte er diesem Zweifel Worte geben, sogar schon wieder voll Unmut auf seine kostbare Zeit hindeuten, als sein Gast just die Kanne hinsetzte und ihn mit seinen großen blitzenden Augen ernst anschauend, sprach:

„Ich weiß, was ihr sagen wollt: „Das klingt Alles recht schön, ist aber ein Märchen, wie es deren so viele gibt und das durchaus keinen Einfluss auf mein Leben und Schicksal haben kann.“ Nicht wahr, also wolltet Ihr sprechen? Ich kann und will es Euch nicht übelnehmen, denn genau dasselbe dachte ich, da ich die fabelhafte Geschichte zuerst las. Doch hört nur den zweiten Teil, meine eigenen Erlebnisse, und Ihr werdet anders denken und reden!“

Graupner war durch diese frisch vorgebrachten Worte, die noch vielerlei Seltsames ahnenließen, wieder ruhiger und auch bereit geworden, weiter zuzuhören. Er nickte lächelnd bejahend mit dem Kopfe, machte sich’s in seinem ledernen Sorgenstuhl recht bequem und der fahrende Geselle fuhr also fort:

„Ich betrachtete das Gelesene Anfangs als ein Märchen, doch hatte ich meine Freude daran und las es oftmals, besonders in stiller, einsamer Nacht. Nach und nach aber stieg der Gedanke in mir auf, dass am Ende doch etwas Wahres daran sein könnte, und – wenn es also wäre, sich also verhielte, Derjenige ein reicher Mann werden würde, der das Abenteuer in der Johannesnacht glücklich bestände. Solches Denken nahm mich bald dermaßen ein, dass ich für nichts Anderes mehr Sinn hatte. Nur mein Orgelspiel betrieb ich noch und zwar auf das eifrigste, wohl wissend, dass ich vorerst ein Meister auf dem königlichen Instrument werden müsste, bevor ich an ein glückliches Bestehen des Abenteuers denken könne. So ging der Winter vorüber, der Frühling kam, und mit ihm nahte der Johannistag. Nun hielt es mich nicht länger in Weissenburg. Ich verlangte meinen Abschied und Lohn, und gerne ließ mich der alte Cantor ziehen, denn ich hatte ihm in letzter Zeit wenig gute Dienste mehr getan. Aufs Neue wanderte ich nun südbaß, dem Laufe des Rheines nach und bald langte ich denn auch in der Stadt Landau an, von wo ich den Weg nach dem Sülzbacher Tal und den Ruinen der alten Abtei suchen wollte.

Die Gegend, die durch die jüngsten Kriege schwer gelitten hatte, war öde und trostlos. Ich begegnete ausgebrannten Dörfern und gebrochenen Burgen und Schlössern, bist ich endlich in das Dorf Ramberg einzog, wo die Bewohner sich wieder gesammelt und angefangen hatten, ihre zerstörten Hütten und Häuser aufzubauen, die verwüsteten Felder wieder zu bestellen. Unter der gewaltigen Linde vor der alten Dorfschenke setzte ich mich nieder und labte mich an einem Glase frischer Milch, das die Frau des Wirths mir gebracht. Ein alter Mann, den die Kriegsläufe zum Krüppel gemacht, gesellte sich zu mir, und da er mein Gewerbe an meiner Kleidung, an meinem Geigensack erkannte, verlangte es ihn zu wissen, was ich in den Bergen der Pfalz zu tun gedenke. Ich wandere durch die schöne Gotteswelt, hierhin, dorthin, wie es mir eben gefällt, antwortete ich ihm, und da mir das Tal zusage, sei ich eben hier eingekehrt, um zu ruhend und zu rasten für einige Tage. Das gefiel dem Alten wohl und er plauderte mir Allerlei von der gebrochenen Burg Ramberg, zu der wir just von unserm Platz unter der Linde aufschauten. Ich brauchte nicht lange herumzufragen, und bald erzählte er mir auch die geheimnisvolle Geschichte von der goldenen Orgel im Eußerthal, dort, über dem vor uns liegenden Hinterwald, genau also wie ich sie in der alten Weissenburger Handschrift gelesen, die dem Bauer, der gewiss nicht einmal lesen konnte, wohl nie zu Gesicht gekommen war, von deren Vorhandensein er nicht die entfernteste Ahnung haben mochte. Dies entschied mein Schicksal. Ich beschloss zu bleiben und mein Glück mit dem gespenstischen Orgelspieler zu versuchen.

Um kurz zu sein, teile ich Euch nur mit, dass ich in Ramberg blieb. Ich bot mich den Bauern als Schullehrer und Cantor an, was von allen Seiten mit Freuden aufund angenommen wurde. Eine herrenlose Hütte war bald hergerichtet, und da die Kirche nur zum Teil zerstört war, so sollte auch diese wieder geflickt und hergestellt werden; dann machte ich mich an die Orgel. Diese war glücklicherweise so ziemlich dem Verderben entgangen, und eine Untersuchung zeigte mir, dass ich das Werk mit einiger Mühe wieder in brauchbaren Stand bringen könne. Hiermit beschäftigte ich mich angelegentlich und wartete mit Ungeduld des bevorstehenden Johannistages.

Ich hatte mich unter der Zeit auch in der Gegend umgesehen und kannte die Örtlichkeit des Eußerthahls genau. Als nun endlich der langersehnte Johannistag erschien, zog ich, fest entschlossen, das Abenteuer zu bestehen, abends hinaus durch den Hinterwald und suchte mir eine passende Stelle an den Ufern des kleinen Sees, zunächst den Überresten der alten Abtei. Der hatte sich jedoch in einen Sumpf verwandelt, hochbedeckt von Schilf und Rohr. Mit gewaltig klopfendem Herzen lagerte ich mich unter den mächtigen Kiefern auf einem der Bergabhänge, von wo aus ich den Sumpf, der so Köstliches bergen sollte, vollständig überschauen konnte. Mit welcher Sehnsucht ich die Mitternacht erwartete, vermag ich nicht zu beschreiben. Endlich wurde es Nacht in dem kleinen Tal und unheimlich stille war es rings um mich her. Mitternacht musste da sein und noch immer hörte ich nichts anderes, als das einförmige Rauschen der gewaltigen Kiefern und das scharfe schneidende Singen und Zischen des im Hauche des Nachtwindes sich bewegenden Schilfes und Röhrichts. Das Herz wollte mir fast die Brust zersprengen vor Aufregung und Erwartung. Doch es nutzte nichts. Alles blieb ruhig und stille, und weder Mönch noch Orgel wollten erscheinen. Da brach der junge Tag an und mit schweren Seufzern musste ich meinen Posten aufgeben und mich heimwärts schleppen. Ein Fieber war die Folge dieses ersten unglücklichen Abenteuers. Die gewaltige Aufregung, die Frische der Nachtluft in dem Tal hatten mir’s angetan, und Wochen lang musste ich dem Siechbett liegen bleiben, gepflegt von mitleidigen Händen. Doch mein Unternehmen hatte ich nicht aufgegeben. Ich durfte und wollte es nicht aufgeben, denn Nichts bewies die erlebte Erfolglosigkeit der vergangenen Johannisnacht. Erschien der gespenstische Mönch mit seiner goldenen Orgel doch nur alle sieben Jahre auf der Erde, und das siebente Jahr konnte noch just das folgende sein! Und wenn ich noch sechs volle Jahre hätte warten müssen, ich beschloss zu bleiben! Hatte doch Jakob zweimal sieben Jahre um Rahel gedient, warum sollte ich nicht die Hälfte dieser Zeit daranwenden, um zu meinem goldenen Ziele zu gelangen?“

Abermals hielt der Erzähler inne und stärkte sich durch den Rest des Inhalts der Kanne, dann führ er fort:

„Wieder erschien der Johannistag und wieder ging es mir wie das erste Mal; ich erlebte nichts! Und also geschah es noch weitere zwei Jahre. Unter der Zeit hatte sich unser Dorf wieder tüchtig gehoben, die Kirche war hergestellt worden und meine Fertigkeit im Spielen hatte sich bedeutend vermehrt. Mit Zuversicht glaubte ich dem Gelingen meines abenteuerlichen Unternehmens entgegenschauen zu dürfen. In der Nacht des fünften Johannistags, den ich im Eußerthal erlebte, lag ich wieder auf dem alten Fleck, auf dem moosigen Abhange unter den Kiefern, doch im Gegensatz zum ersten Male ruhig und auf Alles gefasst. Es war eine dunkle Nacht und nicht das Geringste vermochte ich zu unterscheiden. Da schlugen sonderbare, zauberhafte Töne an mein Ohr. Auf dem Sumpfe tauchte eine Helle auf und dort – mitten in dem bleichen Lichtschimmer stand die goldene Orgel, umgeben von allerlei buntgeschmückten Figuren, Englein und anderen Zierraten. Ein Mönch mit fahlen, hohlen Zügen saß vor den Tasten und eine wundersame Musik, wie ich sie nie gehört, entstieg leide den goldenen Pfeifen und Röhren, und durchzog die Luft, allerlei fremdartige Echo weckend in Tal und Wald!“

Der Erzähler war aufgesprungen. Seine großen dunkeln Augen glühten, sein bleiches Gesicht hatte sich gerötet und mit fieberhafter Hast sprach er weiter. Graupner, dem es ganz sonderbar und unheimlich zu Mut wurde, dabei krampfhaft bei der Hand fassend.

„Ich hatte also soweit mein Ziel erreicht. Es war kein Märchen, die Geschichte von der goldenen Orgel. Da stand sie vor mir, leibhaftig wie Ihr selbst. Einen Augenblick blieb ich starr, dann aber sprang ich auf und mir zuflüsternd „In Gottes Namen voran!“ schritt ich auf die Erscheinung zu, keinen Blick von ihr abwendend. Der Mönch wandte langsam das fahle, eingefallene und knochige Gesicht zu mir hin und schien mir zu winken. Durch Schilf und Röhricht schritt ich voran. Und siehe da! der sumpfige Boden war fest unter meinen Füßen und ungefährdet erreichte ich das goldene Werk. Ach, wie sehnsüchtig schaute ich nach den goldenen Pfeifen, die in dem matten Lichtschimmer so zauberhaft glänzten und funkelten! Die Töne waren verstummt und der gespenstische Spieler hatte mir schon Platz gemacht. Ich weiß nicht, wie es geschah – ich saß an seiner Stelle, meine Hände berührten die kalten beinernen Tasten des Instruments, während meine funkelnden Augen sich nicht von den goldenen Schätzen, die bald mein Eigen sein würden, so dachte ich, trennen konnten. Jetzt begann ich zu spielen. Doch ich war verwirrt; mein Herz, mein Sinn war von dem Golde geblendet und ich fühlte mich unfähig, das Instrument zu regieren und zu handhaben. Mit Gewalt nahm ich mich zusammen und präludierte so gut ich konnte. Jetzt traf mein Blick die gespenstische Gestalt neben mir. Mein Blut gerann, eiskalt lief es mir den Körper herab, denn der Mönch schaute mich mit seinen starren Augen durchdringend an, während seine bleichen Lippen sich unmerklich zu einem mitleidigen Lächeln verzogen. Unbeholfen, hölzern war mein Spielen und matte Töne und Weisen entstiegen den goldenen Pfeifen, und je mehr, je fieberhafter ich mich anstrengte, je weniger wollte es mir gelingen, auf der Orgel hervorzubringen, was ich unter anderen Umständen wohl hätte hervorbringen können. Mein Herzschlag stockte; jetzt machte ich einen verzweifelten Versuch. Doch nur schrille Töne wurden laut. Da erhob der Mönch langsam und drohend den Arm. Das Licht erlosch plötzlich und ein Sausen ging über die sumpfige Wasserfläche, die gewaltig anschwoll, mich emporhob und in das nasse Schilf schleuderte. Dann vergingen mir die Sinne. Was weiter geschehen, weiß ich nicht!“.

Erschöpft hielt der Erzähler inne und von dem lautlos und aufs Höchste aufgeregt horchenden Kapellmeister ablassend, warf er sich auf den Schemel zurück, sich mit dem Rücken an den Schreibtisch lehnend und den Schweiß abtrocknend, der während dem letzten Teil seiner unheimlichen Mittheilung ihm Stirn und Gesicht reichlich bedeckt hatte.

Auch Graupner musste aufstehen und um seine nicht geringe Aufregung zu bekämpfen, einige Male in der kleinen Stube auf- und abgehen. Die Erzählung des fahrenden Gesellen hatte ihn in mehr als einer Hinsicht tief ergriffen. Wenn er auch einen seltsamen abenteuerlichen Menschen vor sich hatte, so musste er doch an die Wahrheit des Gehörten glauben, denn es waren ja einige wirkliche Erlebnisse, so wundersam sie auch klangen, die sein Gast ihm erzählt und in so ergreifender Weise erzählt. Der Fremde hatte sich endlich wieder vollständig erholt und mit dem früher kecken und sichern Blick schaut er den noch immer aufgeregt und sinnend umherwandelnden Kapellmeister an, sprechend:

„Ihr zweifelt wohl immer noch an der Wahrheit des Gehörten? Wahrheit ist es, was ich Euch erzählt, traurige Wahrheit! Ich wollte das Abenteuer wäre anders, glücklicher abgelaufen, dann brauchte ich Euch nicht damit zu plagen. Doch hört meinen Bericht nur zu Ende und was ich Euch weiter noch zu sagen habe.“

Nachdem Graupner sich wieder gesetzt, führ der Andere fort:

„Am Tage nach jener entsetzlichen Nacht fanden mich durch einen glücklichen Zufall die Bauern bewusstlos in dem Röhricht des Sumpfes, fast bis an die Schultern im Schlamme steckend. Wäre dies nicht geschehen, so hätte ich meine Kühnheit mit dem Leben gebüßt! Ich erholte mich glücklicher Weise bald von dem gehabten Schreck und Anfall und überlegte, was nun weiter zu tun sei. Von dem Vorhandensein des goldenen Schatzes hatte ich mich hinlänglich überzeugt und ich musste jetzt auf sichere Mittel sinnen, ihn zu heben. Ich hatte ja volle sieben Jahre Zeit dazu. Bald wusste ich, was ich tun müsse, um zu dem so heiß ersehnten Ziele zu gelangen. Ich musste mir entweder eine außergewöhnliche Fertigkeit auf der Orgel aneignen, oder einen tüchtigen wirklichen Meister auffinden, der Willens sei, mit mir das Abenteuer nach sieben Jahren aufs Neue zu bestehen, dann den goldenen Lohn mit mir zu teilen. Zu Ersterem fühlte ich schließlich weder die rechte Kraft noch die rechte Lust in mir, und so entschloss ich mich denn zu dem zweiten Mittel. Ich verließ meinen traurigen Aufenthalt in dem Dorfe und wanderte wieder als fahrender Musikant hinaus in die Welt, den Meister zu finden, der im Stande sei, das seltene goldene Instrument würdig zu traktieren. Ich zog nach Frankreich, nach Paris, fristete mein Leben so gut es gehen wollte, und wo ich von einem tüchtigen Orgelspieler vernahm, eilte ich hin, um ihn zu hören. Ich lernte große gewaltige Organisten kennen, doch schien mir ihnen hier Dies, dort Jenes zu fehlen, was mir jedes Mal die Hauptsache zu sein dünkte. So prüfte und wählte ich fort und fort, ohne zu irgendeinem Entschluss kommen zu können. Von Frankreich zog ich nach Italien, von Stadt zu Stadt, von Kirche zu Kirche, bald bettelnd, bald musizierend. Jahre vergingen, ohne dass ich fand, was ich so sehnlichst suchte. Endlich wandte ich mich wieder nach Deutschland. Auch hier hörte ich vortreffliche Spieler doch nimmer einen wie ich ihn brauchte. Die Zeit ging zu Ende und verzweifelnd trat ich den Heimweg an, fest entschlossen, nochmals selbst mein Heil zu versuchen, das Geträumte zu erringen oder – unterzugehen. Da führt mich mein Geschick hierher und in Eure Kirche. Und hier, einige Tage vor dem Ablauf der letzten Frist, finde ich in Euch den Meister, den ich sieben lange Jahre vergebens gesucht. Hier bin ich nun und frage Euch, wollet Ihr mit mir das Abenteuer, das ich seit so langen Jahren vorbereitet, dessen Gelingen mir durch Eure Kunst vollständig gesichert erscheint, wollet Ihr es mit mir bestehen, um den hohen goldenen Lohn?“

„Es sei, ich ziehe mit Euch!“ – sagte Graupner, nachdem er lange in tiefem Sinnen dagesessen, „und sei es nur um das Wunderbare, was ich von Euch vernommen, leibhaft zu sehen und zu hören! Ich will das Abenteuer bestehen, und kann die Kunst vollbringen, was Ihr erwartet – so soll es an mir nicht fehlen!“

„Topp!“, rief der Fahrende mit vor Anstrengung heiserer Stimme und rasch in die dargebotene Rechte des Kapellmeisters einschlagend, „Ihr werdet schon vor dem gespenstischen Orgelspieler bestehen. Als Lohn verlangt Ihr dann kecklich die goldenen Pfeifen, und Beide sind wir geborgen bis auf Lebenszeit!“

Noch lange sprachen die beiden Männer zusammen über das sonderbare Unternehmen, bis sie sich endlich spät nach Mitternacht trennten. Der fremde Musicus brachte die Nacht im Lehnstuhl der Studierstube zu, und am andern Morgen saß er vor der von Graupner rasch vollendeten Partitur eifrig beschäftigt, die Stimmen für die Instrumentalisten und Vokalisten aufzuschreiben. Es war Beiden als eine gar günstige Vorbedeutung erschienen, dass gerade dieser letzten Komposition, vor dem großen Unternehmen, Worte des Evangeliums „vom reichen Fischzug“ zu Grunde lagen. Sobald er es hatte wagen können, war Graupner zum Landgrafen Ernst Ludwig, seinem gnädigen Herrn, gegangen, um ihn um sofortigen Urlaub zu einer Reise zu Familien-Angelegenheiten zu bitten, welches Gesuch ihm denn auch von dem Fürsten gewährt worden war. Dann kehrte der Kapellmeister in seiner Musikstube im Schloss ein und übertrug dem fürstlichen Konzertmeister die Leitung der Musik für den folgenden fünften Sonntag nach Trinitatis, mit dem Bemerken, dass ihm Partitur und Stimmen der aufzuführenden Komposition noch heute zugestellt werden würden. Jetzt aber hatte er den letzten und schwersten Gang vor sich, nämlich zu dem fürstlichen Kabinetts-Cassirer, denn ohne Geld war die mehrtägige Reise nach der Pfalz nicht wohl auszuführen. Doch auch dieser Gang war von besten Erfolgen gekrönt, denn nach allerlei bedenklichen und bedächtigen Worten und unter verschiedentlichen schweren Seufzern hatte Herr Chrummelbach, denn also hieß der Vielvermögende, seine gewaltige eiserne Truhe aufgeschlossen und mit tiefhineinlangendem Griffe vom Boden des festen Behälters ein Päckchen mit zwanzig Brabänter hervorgelangt und solche dem wahrhaft aufatmenden Musiker eingehändigt.

Jetzt stand der wichtigen Reise keine Hindernisse mehr im Wege. Zu Hause versorgte Graupner sein Weib mit dem nötigen Gelde, damit sie die Haushaltung für die Zeit seiner Abwesenheit füen könne, seine eigenen Taschen aber mit den klingenden und sonstigen Bedürfnissen für die Reise, als einem Dutzend blanker Kronenthaler und etlichen gewaltigen Schnitten Wildbret-Pastete, so ihm sein Gönner, der landgräfliche Hofküchenmeister – natürlich auf Kosten seines fürstlichen Herrn – verehrt und zugesteckt. Dann nahm er zärtlichen Abschied von Weib und Kind, eine baldige recht frohe Heimkehr versprechend, und vieles und seltenes Glück in Aussicht stellend. Die arme Frau blickte zwar bei solchen ihr unerklärlichen Reden zweifelnd und recht traurig drein, doch hatte sie immer Vertrauen zu ihrem Gatten gehabt und seine frohe und zuversichtliche Miene konnte sie nur in ihrem Glauben bestärken. So ließ sie ihn denn endlich ziemlich beruhigt und von ihren Segenswünschen begleitet ziehen und vollständig für die gar weite Reise vorbereitet und ausgerüstet, verließ der fürstliche Kapellmeister am Nachmittage Haus und Wohnung, um seine abenteuerliche Fahrt aufzunehmen.

 
Audio: 39:39 min.

I. Ein fürstlicher Hofkapellmeister des vorherigen Jahrhunderts                  III. Die St. Johannisnacht


  • Der Sänger

    Ernst Pasqué war zuerst Bariton-Sänger. Folgen Sie seinen Spuren in Europa auf den Bühnen seiner Zeit.   Link zum Musiker
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    Sein Kontakt-Netzwerk in seiner Zeit ist umfassend. Und das nur mit Briefen und persönlichen Kontakten!   Link zum Kommunikator
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    Nach seiner Sängerkarriere schrieb er unermüdlich, über 18.000 Seiten und dies per Tinte und Hand.   Link zum Schriftsteller
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