Das Märchen "Die Goldene Orgel"

Hoch am Himmel stand die Sonne und sandte ihre warmen Strahlen herab in das kleine Thal, als Graupner aus tiefem Schlaf erwachte. Er befand sich an derselben Stelle, wo er sich am Abend niedergeworfen, auf dem moosigen Abhange unter den Kiefern. Vor ihm lag der Sumpf mit seinem Schilf und Blätterwerk, und seiner stillen trüben Wasserfläche. Zur Seite erblickte er, von der Sonne golden beschienen, die Kloster-Ruinen, während hinter denselben das Tal sich zu einem frischen grünen Wiesengrunde erweiterte. Erstaunt richtete sich der Kapellmeister auf und seine Augen reibend und um sich blickend, suchte er gewaltsam seine Gedanken zu ordnen. Alles, was er erlebt und gesehen, war wohl nur ein Traum gewesen? Also war sein erstes Denken. Dann sah er sich nach seinem Gefährten um, doch dieser war nicht mehr da. Er konnte indessen nicht ferne sein, denn dort im Grase, nicht weit von ihm, lag sein Stock und kleines Hütchen. – Jetzt traten alle seltsamen Ereignisse der vergangenen Nacht wieder lebhaft und klar vor seine Seele. Dort hatte die spukhafte goldene Orgel gestanden, die er gespielt, dort hatte ihn die Windsbraut ergriffen, emporgehoben, höher, immer höher bis – in den blauen Himmel hinein, und dort war der kunstreich geschnitzte König David, den er an der Orgel gesehen, und so kecklich von dem gespenstischen Mönch zu Eigen verlangt, samt den beiden hölzernen Englein zu ihm getreten. Ersterer hatte ihm sein Saitenspiel gereicht, das aus purem, lauteren Golde gewesen, auf dem er dann fort und fort gespielt! – ach, so herrliche wunderbare Liedlein, bis – er erwacht! – Ja, er hatte geträumt; es war nicht anders, es konnte nicht anders sein! War er doch erwacht auf derselben Stelle, wo er sich am Abend niedergelegt! Und doch stand auch wieder der Anfang seines seltsamen Erlebnisses so klar und lebendig vor seiner Seele – noch immer wähnte er die wunderbaren Töne und Harmonie der goldenen Orgel zu hören – dass er an die Wirklichkeit des Erlebten glauben musste. Wer konnte ihm Gewissheit geben, all‘ diese Rätsel lösen? – Nach einer Weile tiefen, fruchtlosen Sinnens erhob sich endlich Graupner und begann laut seine Stimme durch Tal und Wald ertönen zu lassen, um seinem Gefährten ein Zeichen zu geben, ihn wenn möglich herbeizurufen. Doch nur das schwache Echo der Bergwände antwortete ihm und stille blieb es im Tal wie auf den Abhängen. Recht ängstlich begann nun der Kapellmeister um sich zu schauen. Da erblickte er an einem Ende des Sumpfes, nach den Ruinen der Abtei zu, mehrere Gestalten, die bei dem Röhricht beschäftigt schienen. Rasch nahm er Hut und Stock, schob seine lederne Tasche auf den Rücken und schritt auf die Stelle zu, wo er die Leute entdeckt. Je näher er kam, je deutlicher vernahm er Stimmen, die in ihm unverständlichen Lauten wirr durcheinanderschrien und sprachen. Jetzt hatte er die Gruppe erreicht. Es war ein altes zerlumptes Zigeunerweib mit einem braunen, fast nackten Knaben und dort – entsetzlicher Anblick! – dort an den Ufern des Sumpfes, noch halb im Schilfe verborgen, lag die entseelte Gestalt seines Gefährten, die die beiden Zigeuner unter lautem Kreischen und Reden vollends aus dem Wasser zu ziehen beschäftigt waren.

Die langen nassen Haare des Unglücklichen bedeckten teilweise sein auf das Fürchterlichste verzerrte Gesicht, während auf den blauen Lippen noch der Fluch zu schweben schien, mit dem er in das Wasser gestürzt, um vielleicht in seinem gierigen Wahnsinn nach den goldenen Pfeifen zu greifen, die Graupner nicht begehrt. – Es war also kein Traum gewesen, was er erlebt, so dachte der entsetzte Musiker. Doch den furchtbaren Anblick, der sich ihm bot, vermochte er nicht zu ertragen und erfüllt vom Schauder und Entsetzen floh er den Bergen zu.

So also hatte das Abenteuer geendet, das er, wenn auch mit unbestimmten Hoffnungen, doch immer mit Hoffnungen unternommen. Es war entsetzlich, und das traurige Schicksal des armen fahrenden Gesellen schnürte dem wackeren Manne schier das Herz zusammen. Und durfte er die Leiche des Unglücklichen jetzt verlassen, sie den Händen jener Zigeuner preisgeben? Dies Denken quälte ihn mehr und mehr und wurde endlich so peinigend für ihn, dass er umzukehren entschlossen war. Da stieß er im Walde auf einen Trupp Bauern, die sich eben zum Holzfällen anschickten. Das war Hilfe für den armen Mann. Er erzählte ihnen, was dort unten im Tal sich zur Stunde ereignete, und dass der Verunglückte lange Jahre Cantor des nahen Dorfes Ramberg gewesen sei. Wie staunten die Leute, da sie Solches hörten. Es waren just Ramberger Bauern, die sich des Cantors erinnerten, und wie er vor etwa sieben Jahren heimlich auf und davon gelaufen. Sie ließen ihre Arbeit stehen und liegen, nahmen ihre Hacken und schlugen den Weg nach dem Tal ein, um den Unglücklichen ein ehrliches Begräbnis zu besorgen und recht getröstet setzte Graupner seinen Weg, den man ihm angedeutet, fort.

Es war eine traurige Wanderung, die der arme Kapellmeister zu vollbringen hatte, und mehrere Tage dauerte sie. Je näher er seiner Heimat kam, je trauriger wurde es ihm um’s Herz. Was sollte er nun beginnen? Der größte Teil seiner Quartalbesoldung war ausgegeben – von den vielen schönen Brabäntern, die er mit auf die Reise genommen, brachte er kaum noch einige nach Darmstadt zurück, und was hatte der geplagte Haus- und Familienvater nicht noch alles zu bezahlen! Endlich stand er vor seiner kleinen Wohnung in der engen Schlossgasse. Da tönte ihm lauter Kinderjubel entgegen und der Erste, der an seinem Halse emporsprang, war sein ältester Knabe, den er krank und siech vor mehr denn acht Tagen verlassen, und der ihn nun munter und gesund mit Küssen begrüßte. Wie froh wurde der Kapellmeister ob solchem Willkommen! Tränen der Freude traten ihm in die Augen und umringt von seinen Kleinen, den Größten und Kleinsten auf den Armen, stieg er die Treppe hinauf und trat in seine stille einfache Wohnung, wo ihn Frau und Mutter, die auch wieder so ziemlich genesen, ebenfalls auf’s Herzlichste und mit den freudigen Mienen und Worten willkommen hießen.

Alles war daheim gut gegangen, viel besser, als man erwartet hatte. Der Rest der Quartalsbesoldung war richtig gefallen und hatte gerade zur Miete gereicht. Auch war noch einiges Geld für Lektionen und Kompositionen eingelaufen, und die Frau hatte als treffliche Wirtschafterin Alles eingeteilt und das Nötigste bezahlt. So war weder Mangel noch Not bei den Seinigen eingekehrt, wie der Musiker gefürchtet und aus tiefstem Herzen dankte er Gott, dass er ihm so väterlich beigestanden und geholfen.

Doch noch eine ganz andere Freude wartete seiner!

‚Nachdem die wechselseitigen Begrüßungen vorbei, der heimgekehrte Wanderer auch ein Weniges seinen Leib erquickt und erlabt, sollte er denn nun auch erzählen, was er auf seiner Fahrt erlebt und ausgerichtet. Das aber hatte seine richtigen Hacken. – Graupner hatte sich wohl gehütet, seinem Weibe beim Abschied etwas von seinem abenteuerlichen Unternehmen zu verraten, sondern ihr alle Aufklärungen für seine Rückkehr versprochen. Jetzt aber, nachdem das Abenteuer so kläglich abgelaufen, konnte und mochte er nicht mehr davon reden, und doch verlangten die Seinigen Auskunft; er musste ihnen solche geben. Der arme Musiker geriet in wahre Bedrängnis und fand endlich kein anderes Mittel, um sich dieser schlimmen Lage zu befreien, als davonzulaufen. Er beschloss daher, sich in sein Studierstübchen zurückzuziehen, dort zu überlegen, was er sagen wolle und könne, und indem er aufstand, vertröstete er die Seinigen auf den Abend, wo er Alles erzählen wollte, jetzt aber ein höchst wichtiges Geschäft beenden müsse, das eben keinen Aufschub erdulde. Damit langte er den Schlüssel zu seinem Dachkämmerchen, den er immer bei sich trug, als Schirm und Schutz seiner Kompositionen gegen den Reinlichkeitsteufel seiner gar zu gerne putzenden Eheliebsten, – wie er oftmals schmerzend zu sagen pflegte – und stieg die kleine Treppe hinauf, seine Frau, sein Mütterchen unaufgeklärt und nicht wenig neugierig zurücklassend.

Jetzt öffnete Graupner die Tür seines kleinen Heiligtums und wollte eintreten. Doch anstatt vorwärtszuschreiten, machte er vor Schreck und Staunen einen gewaltigen Schritt rückwärts, während sich zugleich ein lauter Aufschrei seiner Brust entwand.

Und er hatte Ursache, vollkommene und gerechte Ursache dazu, denn mitten in seiner kleinen Stube stand in Lebensgröße der geschnitzte König David mit seinen prächtigen farbigen Kleidern und dem blinkenden Saitenspiel im Arme, wie er ihn bei der goldenen Orgel geschaut und dann von dem gespenstischen Mönche zu Eigen verlangt hatte. Und dort – dort auf seinem Arbeitstisch, zu beiden Seiten des gewaltigen Tintenfasses, standen auch richtig die beiden kleinen, so lustig musizierenden hölzernen Engelein!

Wer malt sein Staunen, seine Freude? Das Erlebte war Wahrheit gewesen, und hätte er die goldenen Pfeifen als Lohn verlangt, er hätte sie wohl auch jetzt in seiner Stube vorgefunden, also dachte er und schickte sich endlich an, die Schwelle seines Stübchens zu überschreiten. Doch auf’s Neue fuhr er zusammen, denn just hinter ihm erklang ein lauter Aufschrei. Etwas erschrocken wandte er sich um und erblickte seine würdige Hälfte, die durch den Laut des Staunens, den ihr Gatte ausgestoßen, aufmerksam geworden und neugierig die Treppe hinaufgestiegen war, um nun, beim Anblick der prächtigen glänzenden davidschen Figur, die ja ohne ihr Vorwissen, und ohne, dass sie das Geringste davon gemerkt, in ihre Wohnung gekommen war, ihrerseits einen gleichen Schrei der Überraschung auszustoßen.

Rasch zog Graupner seine Eheliebste in die Kammer, schloss die Tür und erzählte ihr in einem Atem sein ganzes gehabtes Abenteuer, ohne irgend etwas davon wegzulassen, sich dabei fast anklagend, dass er die goldenen Pfeifen der Orgel, wegen derer er doch eigentlich ausgezogen, nicht verlangt habe. Die wackere Frau, die anfänglich staunend auf den merkwürdigen Bericht gehorcht hatte, begnügte sich indessen nicht mit dem Hören allein. Während der Musiker forterzählte, betrachtete sie sich die schöne Figur etwas näher. Sie war von Holz geschnitzt und mit bunten Farben und Gold bemalt, wie die kleine zierliche und handliche Harfe, die auch golden glänzte – „Herr, Du mein Gott, was ist das?“ – schrie sie urplötzlich auf, ihren gestrengen Eheherren mitten in seinem Vortrage höchst respektwidrig unterbrechend. Dieser stand auch schon im nächsten Augenblicke neben seinem Weibe und als er den Gegenstand ihres Staunens ebenfalls in Augenschein genommen, fehlte nicht viel und er hätte einen noch lauteren Aufschrei getan – wenn ihm seine Hälfte nicht noch zur rechten Zeit und wohlweislich daran gehindert. Denn was braucht man das ganze Haus darauf aufmerksam zu machen, wenn man in seiner eigenen Stube einen – Schatz findet!

Und so war es auch. Die glänzende Harfe des Königs David war keineswegs von Holz geschnitzt und vergoldet und bemalt, wie der Sängerkönig selbst, sondern fühlte sich fest und metallic an und war vielleicht – nein, ganz gewiss! – wie die Pfeifen und Röhren des wunderbaren Werkes – von purem, lauteren Golde! – Es konnte, konnte nicht anders sein!

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Und es war nicht anders. Davon hatten sich die beiden Gatten bald des Näheren überzeugt. Von purem Golde war die Harfe und der Frankfurter Juwelier, dem der Kapellmeister das extra rare Stück in den nächsten Tagen höchst eigenhändig, doch auch ganz in der Stille überbrachte, zahlte ihm zweitausend blanke Kaiserdukaten dafür aus und machte bei solchem Handel – ich wette Hundert gegen Eins! – doch noch einen gewaltigen Profit!

Jetzt war Freude und Glück in der Familie des wackeren Musikers eingekehrt. Jetzt konnte er sagen und laut verkünden, dass seine Reise einer Familien– und Geld-Angelegenheit gegolten, und dass sie gut und vorteilhaft für ihn ausgefallen. Und man glaubte ihm aufs Wort.

Der Landgraf Ernst Ludwig baute zur selbigen Zeit eine neue Vorstadt zu seiner etwas engen und kleinen Residenz. Auch der fürstliche Kapellmeister Graupner erhielt einen Platz zu einem Hausbau in der neuen Straße, die jetzt die Luisenstraße heißt. Dort baute er sich ein stattliches Haus, das heute noch steht; ein großes Studier- und Musikzimmer richtete er sich darinnen ein, und an den Ehrenplatz dieser Stube stellte er den prächtigen, hölzernen David, dem er in der Stille eine neue Harfe, doch wahlweislich aus gleichem Stoff, wie der König selbst, hatte anfertigen lassen. Auch die beiden Engelein, die sich indessen samt ihren Instrumenten als von Holz erwiesen, wurden dort angepflanzt; und wie früher an dem gemalten Konterfei seines Patrons, des hohen Sänger-Königs, so erfreute und begeisterte sich jetzt der wackere Meister noch lange, lange Jahre an dem fast lebensfrischen, geschnitzten, gar köstlichen Bilde.

Als Graupner endlich das Zeitliche gesegnet, gingen Haus und Figuren an seine Erben über, um schließlich in unseren Tagen in fremde Hände zu gelangen. Da hat denn der Schreiber dieser Geschichte bei dem jetzigen Eigentümer des Hauses den hölzernen, geschnitzten, bemalten und vergoldeten König David samt den beiden musizierenden Englein noch gesehen und bewundert, und in einer stillen heimlichen Stunde hat die prächtige Figur ein neues Wunder verübt, indem sie ihm haarklein alles das zuflüsterte und erzählte, was er in diesen Zeilen zum Andenken an den würdigen und wackeren Kapellmeister und Organisten niedergelegt.

Audio: 17:06 min.

III. Die St. Johannisnacht                  Die Goldene Orgel


  • Der Sänger

    Ernst Pasqué war zuerst Bariton-Sänger. Folgen Sie seinen Spuren in Europa auf den Bühnen seiner Zeit.   Link zum Musiker
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    Sein Kontakt-Netzwerk in seiner Zeit ist umfassend. Und das nur mit Briefen und persönlichen Kontakten!   Link zum Kommunikator
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    Nach seiner Sängerkarriere schrieb er unermüdlich, über 18.000 Seiten und dies per Tinte und Hand.   Link zum Schriftsteller
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